Nachlese

22.01.2024 10:00 - Uhr

Zwischen Leid, Mitleid und Erkenntnis

Da tanzt sie dahin, die Königskobra unter den männerfressenden End-Agern, die als ausgelassene Oma getarnte Man-Eaterin, die beutegreifende Matrone im Schafspelz. Wehe ihrem Opfer…

Bis in die Morgenstunden shaked Finy (Daniela Enzi) in der Diskothek Paradies ihre porösen Knochen auf der Suche nach einem Lamm, das sie in ihre Höhle und auf die wollüstige Schlachtbank zerren kann. Und sie wird fündig. Ihre Beute heißt Emil (Alexander Lughofer) und kann in erotischer Hinsicht nicht bis drei zählen. Davon ganz abgesehen trennen die beiden altersmäßig zwei bis drei Generationen. Finy stürzt sich auf den vor Schock gelähmten und völlig wehrlosen Emil, wie ebendiese Königskobra auf eine erstarrte Maus.

Im Publikum ist man hin und hergerissen. Man will dem ausgelieferten Emil zu Hilfe eilen, der von Fini von einer Ecke in die nächste gedrängt wird. Man möchte Emil an den Ohren ziehen, weil er sich gar so unbeholfen und dämlich anstellt. Man schämt sich für Finy, die ihre Begierden und Gelüste dermaßen schamlos zur Schau stellt. Man findet Finy einfach geil und bewundernswert, weil sie sich kein Blatt vor den Mund nimmt und offensichtlich eine coole und starke Frau ist. Man empfindet von allem etwas, aber vor allem muss man ob der skurrilen Situation und den originellen Dialogen einfach lachen. Finy greift an, Emil geht in Deckung. Finy wiegelt ab, Emil lugt aus dem Schneckenhaus. Finy redet vom rostigen Schuss, von der Schubkarrenstellung, von scharfen Hunden und Begattung – Emil weiß nicht, wohin er zuerst wegsehen soll. Daniela Enzi und Alexander Lughofer >verkörpern< ihre Rollen wortwörtlich. Es ist hinreißend, den beiden in ihren Dialogen zu folgen und der Umstand, dass man mit beiden Kontrahenten so mitfiebern und mitspüren kann, macht sehr deutlich, wie großartig sie ihre Protagonisten darstellen.

Aber es wäre nicht das Theater Ecce, es wäre nicht eine Inszenierung von Gerard Es und es wäre auch nicht Emmanuel Robert-Espalieu als Autor und Regisseur, sowie bekennender Anhänger der absurden Komödie, wenn hinter „Paradies“ nicht sehr viel mehr stecken würde, als der brutale Versuch einer 80jährigen, einen milchbärtigen Mitzwanziger aufzureißen.

Erst verschiedene Szenenwechsel und die mit der Zeit offener werdenden Aussprachen zwischen den beiden Figuren kratzen an der Fassade und legen Motivationen und Zustände frei. Für Finy geht es viel um Angst. Nein, nicht Angst vor dem Alt sein an sich, sondern vor dem vorsätzlichen „Alt gemacht werden“, durch eine Gesellschaft, die das Alter nicht versteht. Eine Gesellschaft, die das Alter in Jahren misst und nicht als individuellen Zustand eines Menschen. Eine Gesellschaft, die Menschen, gleich welchen Alters, nicht an ihren persönlichen Zuständen und Bedürfnissen erfassen will, sondern einer sturen Routine folgt, die dem Individuum, ganz speziell in späteren Lebensphasen, immer weniger ermöglicht, selbst und nach eigenen Prinzipien und Werten zu gestalten. Ja, Finy ist etwas durchgeknallt, aber sie ist geistig voll im Leben, körperlich fit, sie ist lebensfroh und „gefährlich“ und beschwingt. Alles, was sie „hat“, woran sie aus gesellschaftlicher Sicht leidet, sind einfach nur viele Jahre und nach ihrem Dafürhalten zu wenig Sex.

Für Emil geht es auch viel um Angst. Emil ist jung und hat sich bereits eingeordnet. Emil ist die Gesellschaft, die Finy verurteilt. Und Finy führt das Emil sehr deutlich vor Augen. Emil vernachlässigt seine Oma im Altersheim, weil er bereits jetzt Angst vor dem Alter hat und dennoch gelingt es ihm nicht, zu leben. Es braucht erst eine Naturgewalt wie Finy, mit der er in der Diskothek Paradies stundenlang allein eingeschlossen ist. Jetzt kann Emil nicht mehr weghören, er muss sich mit Finy, ihren immer noch vorhandenen sexuellen Begierden, mit dem Alter, mit seiner Oma und mit sich selbst auseinandersetzen. Was das Theater Ecce mit dem Stück tatsächlich erreicht, und ja, es ist ok sich zu schämen, ist, dass man sich als Emil fühlt. Gleich ob Mann oder Frau, wir sind alle ein wenig Emil, die einen mehr, die anderen weniger. Und wir alle könnten einen Abend mit Finy sehr gut gebrauchen!

(mw)