Nachlese

14.10.2023 09:00 - Uhr

Das arme Mädchen

Man kommt nicht umhin, mit der Protagonistin Mitleid zu empfinden, die ihr Leben als eine Kette des Scheiterns empfindet. Die es, ihn ihren Augen als Einzige geschafft hat, aus der einen Fuck Up Night einen Serientermin werden zu lassen. Als Mann in Publikum beginnt man, ob der humorvollen Bitterkeit, mit der Bina Blumencron ihre sozio-sexuellen Abstürze inszeniert, etwas mit sich selbst zu hadern. Sind wir beziehungsunfähig geworden? Jose, der geistlose Narzisst, Max, der langweilige Säufer, Jens, das hohle Rohr von Weiberheld, Matthias, der weltfremd-Durchgeistigte… gibt es uns auch in „normal“?

Ein schlechtes Gewissen macht sich breit, gepaart mit etwas Fremdschämen für die dargestellten Stereotypen. Doch Autor und Regisseur Benjamin Blaikner macht aus „Tinder – A Fucked Up Night“ keine Männerjagd, wir dürfen trotz schlechtem Gewissen aufatmen. Er lässt im Grunde auch an der Protagonistin kein gutes Haar, denn die verhält sich in Sachen Beziehung recht modern. Jetzt gehen wir einmal den Weg des geringsten Widerstandes, laissez fair und Einfalt sind gar wunderbar‘ Begleiter. Ich weiß nicht was ich will, das aber bitte schnell und einfach. Sie lässt sich buchstäblich auf alles und jeden ein – außer auf die Verantwortung für ihr eigenes Leben. Ihr marodes Beziehungsgebaren gleicht mehr einem Dart-Spiel – je mehr Pfeile man abschießt, desto höher die Wahrscheinlichkeit für ein Bullseye. Und da sind wir schon angelangt – mitten im tindern. Mit Tinder ist es wie mit jeder Social Media Plattform. Der Grundsatz lautet, viel hilft viel. Wer nicht weiß, was er will, wer sich wie ein Stück Treibholz in den medialen Fluss legt, endet wie unsere Protagonistin als emotionales Strandgut. Wer es findet, dem gehört es. Auf Tinder lösen wir unsere emotionale Identität in einem Brei aus anklickbaren Optionen gestellten Bildern auf und gießen das Ganze in immer neue Schablonen, je nachdem, wofür wir gerade Schwärmen.

Worüber man aber wirklich und aus vollem Herzen ins Schwärmen kommt, ist Bina Blumencron. Die Schauspielerin und Musikerin ist ein Allround-Ausnahmetalent. Die Kernigkeit, mit der sie die glücklos Liebessuchende von einem Martyrium ins nächste stolpern lässt, ist weit weg von depressiver Wehleidigkeit. Die allen maskulinen Arschkarten zum Trotz humoristisch angelegte Rolle scheint der energischen Powerfrau wie auf den Leib geschrieben. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie von einem Fiasko zum nächsten läuft, bedient sie die verschiedensten Instrumente auf der Bühne und kleidet ihre Mimik und Gestik in ein immer neues Outfit. Sie wechselt ihre darstellerischen Attribute im gleichen Tempo wie die Männer im Stück und es kommt ihr während der ganzen Soloperformance kein einziges Mal die Spannung abhanden. Ein einmaliges As in ihrem Ärmel ist ihre Stimme. Egal ob einfältiger Schmachtfetzen, opernhafte Arie oder Rockballade der Oberliga – Blumencrons Stimme ist eine echte Ausnahmeerscheinung an Wandelbarkeit, Klang und Dichte.

(mw)