Nachlese

16.09.2018 10:32 - Uhr

Sie alle sind ich

Sie alle sind ich. Das sagt Harry Haller, ein seelisch gespaltener Einzelgänger, einer, der mit 50 den erlösenden Tod sucht, möglichst in Wollust und gleichzeitig die Unsterblichkeit eines Goethe oder Mozart anbetet, einer, der nichts mehr hasst als das Mittelmaß, sich nach starken Gefühlen sehnt, Gefühle, die ihm nur Literatur, klassische Musik und körperliche Liebe geben können. Er leidet unter der Zerrissenheit einer geistlosen Zeit, die von Umbruch und Orientierungslosigkeit geprägt ist. Harry hat zwei Naturen, eine menschliche und eine wölfische, die miteinander in Feindschaft leben, sich gegenseitig belauern und bloßstellen. Diese Zwiespältigkeit macht nicht nur ihn selbst unglücklich, sondern auch die Menschen, die ihn lieben. Während eines Streifzugs durch die nächtliche Stadt entdeckt er an einer Mauer eine Leuchtreklame „Magisches Theater. Eintritt nicht für jedermann. Nur für Verrückte“. Er fühlt sich auf ungewöhnlich starke Weise davon angezogen. Ein wenig später schenkt ihm ein fremder Mann ein Büchlein mit dem Titel „Tractat vom Steppenwolf“, das von einer Figur namens Harry, die Steppenwolf genannt wird, handelt.

 

Ich habe das Buch mit etwa 17 Jahren gelesen. Das war 1972. Man musste es damals lesen, egal ob man es verstand oder nicht. Ich habe es damals - beim ersten Lesen - nicht verstanden. Ich trug es lange Zeit mit mir herum. Dennoch: Geschichten, wie der „Steppenwolf“, sind Geschichten, die man nicht vergisst. Wie das Leben so spielt: Johannes Ender inszeniert 2018 diesen Stoff als Bühnenstück in einer Kooperation zwischen Kunstbox und Landestheater auf so faszinierende Weise, dass die Bruchstücke meiner Erinnerung in komplette Teile zusammengesetzt werden. Er hat gemeinsam mit Ausstatterin Hannah Landes eine Interpretation  des „Steppenwolf“ geschaffen, in der sich Hintergründigkeit und Vordergründigkeit gleichsam aufheben.

 

Alle wichtigen Figuren des Romans werden von drei Schauspielerinnen gespielt: Harry, Hermine, Maria, Johann Wolfgang Goethe und der Professor. Sie geben alles in allen Facetten der Widersprüchlichkeit: Sie sind arrogant und verzweifelt, charmant und bedrohlich, selbstgefällig und mit sich ringend, charmant und brüllend. Sie bilden die drei Seelen dieses Stückes, manchmal als Einheit, als ängstliches Menschenknäuel am Boden kauernd, manchmal wird Harry Haller von zwei Schauspielerinnen dargestellt, ebenso der Professor, eine Glanzleistung von Zobel und Halus, die hier in absoluter Synchronizität hinter zwei Masken den Text so sprechen müssen, das er auch verständlich bleibt. Janina Raspe zeigt eine Wandlungsfähigkeit, die ihresgleichen sucht. Sie bildet nicht nur das Epizentrum der verschieden Stimmungslagen Harry Hallers, genauso versteht sie es, als betörende Hermine die Bühne auszufüllen.

 

Die drei schlüpfen nahtlos abwechselnd in die verschiedenen Figuren. Ein gut gewählter Schachzug von Johannes Ender, denn die Frauen persiflieren diesen zerrissenen, maskulinen und machoiden Harry Haller perfekt mit imposantem Auftreten. Dank der schnellen Rollenwechsel und des hohen Tempos können sie in diesem Stück zeigen, wie wandelbar sie innerhalb kürzester Zeit sind. „Sie alle bin ich“ im wahrsten Sinne des Wortes. Das alles vollzieht sich inmitten einer von Hannah Landes meisterhaft geschaffenen Bühnenausstattung, die jene Vielschichtigkeit Harry Hallers Persönlichkeit widerspiegelt, die der Treibstoff für diesen Stoff ist.

 

Hermann Hesse schrieb seinen wegweisenden Roman im Jahr 1927. 91 Jahre später gilt das Buch immer noch als Klassiker, weil sich viele in der Hauptfigur des Harry Haller wiedererkennen, der unter seinem bieder-bürgerlichen Leben leidet und sich in eine Welt voller Begierde, Lust und Drogen hineinträumt: dem „magischen Theater“. In meiner Generation avancierte der „Steppenwolf“ zum Kultroman. Wahrscheinlich trug ich deshalb als Jugendlicher dieses Buch monatelang mit mir herum. Gestern wurde mir der Stoff auf‘s Neue geschenkt. Von einem Ensemble, das den Wechsel zwischen den extremen Gefühlslagen und Figuren so authentisch spielt, dass man abgeholt und mitgerissen wird. Hier ist ein wirklich großer Wurf gelungen. Wer allerdings das Gewohnte sucht, wird hier enttäuscht. Wer überrascht, irritiert, unterhalten und mit Energie aufgeladen werden möchte, geht erfüllt aus dem Theater. Eine wahrhaft große Premiere des Salzburger Landestheaters im Emailwerk Seekirchen.

(lf)