Nachlese

20.11.2022 09:00 - Uhr

Eine Vermessung der Außenwelt mit dem Inneren

Sich versenken, sich vergessen und am Ende eine Erkenntnis gewinnen, das ist etwas wie kontemplative Leidenschaft, ein Widerspruch in sich und doch - das gibt es. An einem grauen Novembertag füllte eine Künstlerin die Emailwerkbühne mit Licht, ein Leuchten, das Wut und Staunen gleichzeitig in sich trug. Es war eine Vermessung der Außenwelt mit dem Inneren und ihre Bewältigung mit der Sprache der Musik.

Lylit, mit bürgerlichen Namen Eva Klampfer, ist Sängerin, Produzentin, Komponistin und Multi-Instrumentalistin. Viele Male stand sie schon auf dieser Bühne, und immer wieder brachte sie eine neue Lylit mit. Eine, die sich in der Sache immer treu geblieben ist, die seismografisch und detektivisch die Tiefen der menschlichen Schwächen und Stärken auslotet, aber in immer wieder neuen Facetten und Ausprägungen. Dieses Programm ist von einer neuen Tiefe geprägt. Sie hat sich mit dem Schauspieler Kristian Nekrasov auf die Suche nach den brennendsten Themen ihres Inneren begeben und diese in Musik umgewandelt. Klar und schnörkellos, direkt und intensiv ist es geworden, dieses neue Programm, das so neu ist, dass es noch keinen Tonträger davon gibt. Auf der Bühne: Lylit, ein Flügel und zwei weitere Frauenstimmen.

Wenn Lylit am Klavier sitzt und singt, ist es, als würde ihre Seele singen, alles an ihr erzählt, sie singt und spielt ihr Innerstes nach außen, ohne es herzugeben. Es ist ein Malen mit der Stimme, vom zarten transparenten Aquarell bis zum explosiven Schüttbild, ihre Energie fließt durch die Finger direkt und eindringlich in die weißen und schwarzen Tasten, die Backvocals von Anja Om und Ricarda Oberneder verstärken nicht, sie intensivieren, werden zu Verbündeten, zu Kollaborateurinnen, die gemeinsam Musik und Worte in die Welt hinaustragen, oft hinausschreien. Manchmal eine überwältigende Stimmgewalt, dann wieder Schreie, die an Zartheit nichts vermissen lassen.

Es ist eine poetische Musik, im besten Sinne des Wortes, poetische Gedanken müssen großen, wahren, reinen ethischen Gefühlen dienstbar sein, wir übersetzen Poesie ja eigentlich mit Dichtkunst und verstehen darunter im Besonderen die Kunst, Gefühle durch Gedanken in Worten zu verdichten, im Allgemeinen aber die Kunst, Gefühle durch Gedanken in beliebigen Stoffen zu formen, sie in Farben sichtbar oder in Tönen hörbar zu machen.

Töne, die zu Werkzeugen von Lylits kreativen Schaffen werden. Man kann die Klänge, die sie auf der Bühne erschafft, in ihrem Gesicht lesen. Die Intensität des Programms nimmt die gänsehautüberzogene Zuhörerschaft zwangsläufig gefangen, sogar Tränen fließen da und dort. Was sie formuliert, formt und in die Welt hinaussingt, ist nicht nur ersonnen, erdichtet, nein, es hat Relevanz, es behandelt Themen in der Mitte ebenso wie an den Rändern der Gesellschaft, allein die Playlist des Abends liest sich wie ein Gedicht: As long as / What if / I can´t do / Call me bad / Let it bleed / Let go / Blocks / Overload / Wanting more / I see you / My body / Batter / Right way / Call me things / I am more.

Es schwang so viel mit, dass man sich wünschte, dieses Konzert möge niemals enden, aber die Realität bewies ihre Unbarmherzigkeit und entließ das Publikum in eine Welt da draußen, vielleicht mit einem neuen, frischen Blick darauf. Man musste nur durch das Fenster blicken, das Lylit an diesem Abend für alle geöffnet hatte.....

(lf)